Meyers Universum: Triest 1859

Da liegt es, das schöne Triest! Vor uns breiten sich Bahnhof und Stadt, Gebirg und Meer aus. Jenseits des Bahnhofs sehen wir zur Rechten die Neustadt von Triest; sie ist auf ebenem, größtenteils dem Meere abgerungenen Boden in quadratischer Straßenregelmäßigkeit gebaut und wird von dem Canal grande, welcher die größten Schiffe aufnehmen kann, in zwei Hälften zerschnitten. Wir mögen von Triest`s landschaftlicher und archetektonischer Erscheinung einen ersten Eindruck empfangen, welcher Art er sei: er geht unter, sobald wir die Stadt selbst betreten. Das Leben eines Verkehrs, welcher den Orient mit dem Occident verbindet, verleiht der Stadt ihre einzige Bedeutung. Sie ist ein Platz rastloser Arbeit, unermüdlicher Spekulation, unersättlichen Erwerbsdurstes: sie ist mehr eine nordamerikanische als eine europäische Stadt. „Verdienst, Geld, Reichtum!“ – das ist der Ruf ihres innersten Dranges. Die Stadt wächst, wie keine zweite des Festlandes, nach allen Seiten hin; Berge werden abgetragen, Meerestiefen ausgefüllt, Gärten in palastreihen verwandelt, und über den Rücken des Berges greifen bereits die Straßenarme nach der anderen Seite, wo bei dem neuen Arsenale des Lloyd ein neuer Hafen Triests entsteht und Fabriken und Arbeiterhäuser wie aus dem Boden wachsen. Gegenwärtig zählt die Stadt allein und ohne die schwankende Bevölkerung, welche Handel und Schifffahrt, Beamten- und Militärstand ihr zuführen, 70.000 Einwohner. Triest ist eine Stadt der Arbeit, und darum übertragen seine Paläste der Industrie alles übrige Bauwerk. Der Bahnhof nimmt eine Grundfläche von 250.000 Quadratfuß ein, hat demnach die bedeutendste Ausdehnung aller Bahnhöfe Europas. Die Gebäude der Station, die Warenlager, Maschinenhäuser, Zollamtslokale, Wasserdepots, Werkstätten und Beamtenwohnungen entsprechen dem Imponierenden des Ortes und des Zwecks. Zugleich erhielt der Bahnhof seinen besonderen geschützten Hafen.